Walter Friedensburg, Der Verzicht Karlstadts auf das Wittenberger Archidiakonat und die Pfarre in Orlamünde (1524 Juni), in: Archiv für Reformationsgeschichte 11 (1914), 70 f.
Literature:
Hermann Barge, Frühprotestantisches Gemeindechristentum in Wittenberg und Orlamünde. Zugleich eine Abwehr gegen Karl Müllers „Luther und Karlstadt“. Leipzig 1909, bes. 224–280.
Ulrich Bubenheimer, Karlstadt, Andreas Rudolff Bodenstein von (1486–1541), in: Theologische Realenzyklopädie 17 (1988), 649–657.
Ulrich Bubenheimer/Stefan Oehming (Hrsg.), Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung. Würzburg 2001.
Walter Friedensburg, Der Verzicht Karlstadts auf das Wittenberger Archidiakonat und die Pfarre in Orlamünde (1524 Juni), in: Archiv für Reformationsgeschichte 11 (1914), 69–72.
Hans-Jürgen Goertz, Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Bd. 93) Göttingen 2007, bes. 59–75.
Volkmar Joestel, Ostthüringen und Karlstadt. Soziale Bewegung und Reformation im mittleren Saaletal am Vorabend des Bauernkrieges (1522–1524). Berlin 1996.
Der durch seine radikale Gemeindereformation hervorgetretene und deshalb in Kursachsen unliebsam gewordene Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, erklärte in seinem Brief an den ernestinischen Kurfürsten Friedrich den Weisen vom 8. Juni 1524 nicht nur, dass er von seiner Orlamünder Pfarrstelle zurücktrete, sondern verzichte auch auf sein Kanonikat (Archidiakonat) am Wittenberger Allerheiligenstift. Er könne es nicht mit seinem Gewissen und seinen Glaubensvorstellungen vereinbaren, auf seine alte Stelle zurückzukehren. Doch was bewegte Karlstadt überhaupt zu diesem Schritt?
Der aus Franken stammende Andreas Karlstadt war ursprünglich Theologieprofessor an der Universität Wittenberg und Inhaber eines Archidiakonat genannten Kanonikats am Wittenberger Allerheiligenstift. Er gehörte neben Martin Luther zu den frühen Gallionsfiguren der evangelischen Bewegung. So erhielt er 1520 ebenso wie Luther die päpstliche Bannandrohung. Während Luther auf die Wartburg „entführt“ wurde, verblieb Karlstadt in Wittenberg und entfaltete in dieser Zeit eine prägende Wirkung: Bereits zu Weihnachten 1521 feierte er die erste öffentliche evangelische Messe und predigte auf Deutsch. In seiner 1522 veröffentlichte Schrift „Löbliche Ordnung der Fürstlichen Stat Wittemberg“ legte er seine Version einer christlichen (evangelischen) Stadt dar: Es sollte eine evangelische Messe eingeführt, die Heiligenbilder verboten, unsittliche Einrichtungen wie das Freudenhaus geschlossen sowie eine klar geregelte Armen-, Witwen- und Waisenfürsorge eingeführt werden, die das Verbot des Bettelns einschloss. Durch die Einrichtung eines „gemeinen Kasten“ sollte diese Sozialfürsorge aus einem einheitlichen städtischen Topf bezahlt werden. Diese Veränderung des kirchlichen Lebens und die von Karlstadt beförderte Radikalisierung der evangelischen Bewegung fand ihr jähes Ende mit der Rückkehr Luthers nach Wittenberg im März 1522. Luther plädierte für gemäßigte Reformen und machte seinen Anspruch als ‚erstberufener Reformator‘ geltend, Karlstadt hingegen durfte seine Predigertätigkeit in der Stiftskirche in Wittenberg nicht weiter ausüben und sollte sich nur noch auf seine akademische Tätigkeit beschränken. Deutlich wurde die Zurechtweisung durch die universitäre Pressezensur, die über seine Schriften verhängt wurde. Für Karlstadt war dies eine unbefriedigende Situation, weil er nicht nur seinen Führungsanspruch in der evangelischen Bewegung in Wittenberg verlor, sondern Luthers gemäßigte Reformmaßnahmen als altgläubige Restauration wahrnahm.
In der Folge übersiedelte Karlstadt Ende 1523 nach Orlamünde. Die dortige Pfarrstelle war dem Archidiakonat in Wittenberg inkorporiert und wurde sonst von einem Vikar versorgt. Karlstadt erhoffte sich Abstand zu den Wittenberger Ereignissen und richtete sich zunächst in einem einfachen Leben als „Bauer Andreas“ ein. In Orlamünde konnte er außerdem seine Gemeindereformation, die er in Wittenberg begonnen hatte, wieder unangefochten aufnehmen. So wurde der Gottesdienst grundlegend im evangelischen Sinne verändert: Das Abendmahl in beiderlei Gestalt wurde eingeführt, die lateinische Messe und die Heiligenverehrung abgeschafft und die Predigt fand in der deutschen Sprache statt. Auch wurden die Heiligenbilder aus der Kirche verbannt und die Kindertaufe eingestellt. Die Gläubigen sollten so dem Exempel Christi besser folgen können. In Karlstadts theologischen Grundverständnis besaßen die Laienfrömmigkeit und die Gemeinde selbst einen hohen Stellenwert. Er räumte ihr eine große religiöse Eigenständigkeit und eine aktive Beteiligung ein.
Mit diesem Kirchenverständnis wich er aber stark von der herrschenden gottesdienstlichen Praxis in Wittenberg ab. Gerade dies ließ Luther und die landesherrliche Obrigkeit argwöhnisch werden. Erste Interventionen erfolgten seit Januar 1524 gegen seine publizierten Schriften. In den darauffolgenden Monaten versuchte man, Karlstadt wieder nach Wittenberg an die Universität und an das Allerheiligenstift zurückzuholen, damit er seine Lehrtätigkeit und Pflichten vor Ort wieder übernehmen könne und – dies war nicht unerheblich – auch besser kontrollierbar wäre. Diese lehnte Karlstadt entschieden ab, wie der vorliegende Brief verdeutlicht. Er bat darin um eine schriftliche Bestätigung, ob der Kurfürst seine Resignation annehme und zugleich erhoffte er sich, restliche Leistungen aus den Wittenberger Pfründen zu erhalten. Die nun folgende Reaktion der kurfürstlichen Regierung kann nur mit den parallel erfolgten Ereignissen verstanden werden. Im Juli 1524 hielt Thomas Müntzer seine sogenannte Fürstenpredigt, die offen die Obrigkeit angriff. Karlstadt wurde mit seinem radikalen Wirken in Orlamünde nun im Zusammenhang mit Müntzer gesehen und als Aufrührer wahrgenommen, der eine Gefährdung für die Obrigkeit darstelle und zur sozialen Destabilisierung beitrage. Luther bekam nun den Auftrag vom Kurprinz Johann Friedrich, die Orte von Karlstadts Wirken zu visitieren und dort wieder Ordnung zu schaffen. Dabei wurde die unüberbrückbare Differenz zwischen Luther und Karlstadt immer offensichtlicher. Trotz der Wahl der Orlamünder, die Karlstadt zu ihrem rechtmäßigen Pfarrer erklärten, endete der Streit mit Karlstadts Ausweisung aus Kursachsen im Herbst 1524.
Translation:
Andreas Bodenstein notifies Elector Frederick the Wise that, following his release from his post in Orlamünde, he is also resigning from his Arch-Deaconry post at the Wittenberg Allerheiligenstift (All Saints’ Monastery), to avoid new religious disputes, Borna, August 6, 1524
In his letter from June 8, 1524 to the Ernestine Elector Frederick the Wise, Andreas Bodenstein. also called Karlstadt, who gained notoriety through his radical parish reformation and was therefore unwelcome in the Electorate of Saxony, not only declared that he was resigning from his Orlamünde pastorate, but was also renouncing his canonicate (Arch-Deaconry) at the Wittenberg Allerheiligenstift (All Saints’ Monastery). He stated that he could not reconcile returning to his old position with his conscience and his beliefs. But what moved Karlstadt to take this step?
A native of Franconia, Andreas Karlstadt was originally a professor of theology at the University of Wittenberg and also held a canonicate (or Arch-Deaconry) at the Wittenberg All Saints’ Monastery. Alongside Martin Luther, he was among the early figureheads of the evangelical movement. Just like Luther, in 1520 he received the Papal Bull of Excommunication. While Luther was “carried off” to the Wartburg, Karlstadt remained in Wittenberg and played a significant role in shaping events during this time: As early as 1521, he celebrated the first public Protestant mass and preached in German. In his 1522 tract “Löbliche Ordnung der Fürstlichen Stat Wittemberg” he presented his version of a Christian (Protestant) city: A Protestant mass should be introduced, images of the saints prohibited, immoral institutions such as the brothel closed, and clearly defined care introduced for the poor, widows, and orphans, including the prohibition of begging. This social welfare system was to be funded from a single municipal source through the establishment of a “common chest.” This change in church life and the radicalization of the Protestant movement advanced by Karlstadt came to an abrupt end when Luther returned to Wittenberg in March 1522. Luther advocated moderate reforms and asserted his claim as ‘first-called reformer’ while Karlstadt was prohibited from continuing to preach at the collegiate church in Wittenberg and was to limit himself exclusively to his academic activities. The rebuke was made even clearer by the university press censorship imposed on his writings. This was an unsatisfactory situation for Karlstadt because he not only lost his claim to leadership in the Wittenberg Protestant movement, but also perceived Luther’s moderate reforms as a restoration of Roman Catholic values.
As a result, Karlstadt moved to Orlamünde in late 1523. The local rectorate was incorporated into the Arch-Deaconry in Wittenberg and was also served by a vicar. Karlstadt hoped to distance himself from the events in Wittenberg events and initially established a simple life as “farmer Andreas.” In Orlamünde he was also able to resume the parish reformation activities he had begun in Wittenberg unchallenged. The church service was thus fundamentally changed in the Protestant sense: Communion in both forms was introduced, the Latin mass and the veneration of the saints were abolished, and the sermon was delivered in German. Images of saints were banished from the church and the practice of infant baptisms discontinued. This was intended to enable the faithful to better follow the example of Christ. Lay piety and the congregation itself ranked very highly according to Karlstadt’s fundamental theological understanding. He granted the congregation great religious autonomy and room for active participation.
However, this understanding of the church meant that he deviated greatly from the prevailing liturgical practice in Wittenberg. This is precisely why Luther and the sovereign authorities became suspicious. Initial interventions against his published writings started in January 1524. In the months that followed, attempts were made to bring Karlstadt back to the university and the All Saints’ Monastery in Wittenberg so he could resume his teaching duties there and - not at all insignificantly - so that he would be easier to control. Karlstadt decidedly rejected this request, as the letter shows. In this letter, he requested written confirmation of whether the elector accepted his resignation and at the same time he hoped to receive the remaining monies from the Wittenberg benefices. The subsequent reaction of the electoral government can be understood only in connection with the events that took place in parallel. In July 1524, Thomas Müntzer gave his so-called Sermon to the Princes, in which he openly attacked the authorities. Karlstadt and his radical work in Orlamünde were now perceived as connected with Müntzer and he was perceived as an instigator who constituted a threat to the authorities and contributed to social destabilization. Luther was then commissioned by the electoral prince Johann Friedrich to visit the places where Karlstadt worked and to restore order. The irreconcilable difference between Luther and Karlstadt became increasingly obvious. Despite the vote of the residents of Orlamünde, who declared Karlstadt their rightful pastor, the dispute ended with Karlstadt’s expulsion from the Electorate of Saxony in the fall of 1524.