Mehr als zwei Drittel der 95 Thesen Martin Luthers beschäftigen sich mit dem Problem des Ablasses. Auslöser für Luthers Kritik war eine Ablasskampagne des Erzbischofs von Mainz und Magdeburg, dessen geistliche Zuständigkeit bis nahe an die Stadt Wittenberg heranreichte. Aus dieser Ablasskampagne stammt auch der Beichtbrief für den Fritzlaer Schöffen Cyriak Iring und seine Frau Eila.
Die katholische Lehre vom Ablass entwickelte sich zusammen mit der Vorstellung vom Fegefeuer im Hochmittelalter. Ablass meint den Erlass der nach der Absolution im Bußsakrament verbleibenden zeitlichen Sündenstrafen. Während kleinere Ablässe im Mittelalter in nahezu jeder Kirche gewonnen werden konnten, war und ist der vollkommene Ablass (Plenarablass) an den Papst gebunden. Als – auch aus katholischer Sicht – theologisch problematisch erweist sich die Fiskalisierung des Ablasses im Verlauf des Spätmittelalters. Die Erteilung von Zertifikaten, die aus dem Gnadenschatz der Kirche schöpften, entwickelte sich jedoch zu einem äußerst profitablen kirchlichen Geschäftsmodell, das hinsichtlich seiner Gnadenwirkung und Zweckbestimmung ständig erweitert wurde: War die Gewinnung des Plenarablasses zunächst an die Teilnahme am Kreuzzug gebunden, so wurde sie seit 1300 auf den Rombesuch im Heiligen Jahr ausgedehnt und schließlich in päpstlichen Ablasskampagnen über Rom hinaus verbreitet; gleichzeitig konnten nun auch Ablässe für andere wichtige Anliegen der Christenheit, aber auch zur Finanzierung von Kirchenbauten, Wegen und Brücken aufgelegt werden. Inhaltlich wurde der Ablass von den zeitlichen (weltlichen) Sündenstrafen auf die Strafen im Fegefeuer ausgedehnt und schließlich kam die Möglichkeit hinzu, den Ablass Verstorbenen zuzuwenden.
1501–1504 führte der päpstliche Kardinallegat Raimund Peraudi eine Ablasskampagne zum Jubeljahr 1500 durch, deren Erlöse für den Türkenkrieg bestimmt waren. Die lukrativen Sammlungen schufen allerlei Begehrlichkeiten: Die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, die die Sammlungen in ihrem Gebiet zu bewilligen hatten, ja sogar die Ortspfarrer, denen die Oblationen entgingen, hielten die Hand auf. Peraudi gewährte zahlreiche weitere, lokal begrenzte Ablässe; dazu geriet er über die Verwendung der Gelder in Konflikt mit dem stets geldbedürftigen König Maximilian I., der sich als weltliches Oberhaupt der Christenheit zuallererst zum Kreuzzug berufen fühlte. In den Jahren 1505–1517 folgten dann sieben weitere Ablasskampagnen.
1516–1517 wurde der Petersablass in den Erzbistümern Mainz und Magdeburg gepredigt. Er war für den 1506 begonnenen, von Bramante geplanten Neubau des Petersdoms bestimmt, die Hälfte der Einnahmen erhielt jedoch Erzbischof Albrecht, außerdem zweigte Kaiser Maximilian Geld für die Stadtkirche (heute Dom) St. Jakob in Innsbruck ab. Albrecht verwendete das Geld zur Tilgung von Schulden, die durch seine Doppelwahl zum Erzbischof von Magdeburg, apostolischen Administrator von Halberstadt und Erzbischof von Mainz in den Jahren 1513/14 aufgelaufen waren. Albrecht von Brandenburg war der Sohn des Brandenburger Kurfürsten Johann Cicero. Mit der Erlangung des Mainzer Erzstuhls, mit dem die ranghöchste geistliche Kurwürde des Reichs verbunden war, konnte er selbst in die Reihe und sogar an die Spitze der Reichsfürsten aufrücken (die Titel Primas und Princeps elector in der Urkunde bringen das zum Ausdruck) und die Hausmacht der Zollern im Reich ausbauen. Die doppelte Erzbischofswürde bedeutete deshalb einen ungeheuren Macht- und Prestigegewinn. Die römische Kurie ließ sich ihre Einwilligung in diese Wahl und in die zuvor nie dagewesene Vereinigung zweier Erzbistümer in der Hand eines einzelnen teuer bezahlen. Gleichzeitig wies bereits sie den Weg auf den Ablass, um die notwenigen Geldmittel für aufzubringen. In den ausgedehnten Kirchenprovinzen Albrechts war eine Ablasskampagne besonders vielversprechend.
Die Gewährung des Ablasses erfolgte unter bestimmten Zeremonien mit Stationsgottesdiensten, Reliquienschauen, Ablasspredigten, dem Verkauf der Ablassbriefe und einer eigenen Liturgie, in deren Zentrum ein rotes Kreuz stand, begleitet von den päpstlichen Fahnen und – ebenso sinnfällig wie nach heutigem und teilweise auch damaligem Empfinden deplatziert – der Ablasskiste. Die Geldtaxen für die Ablassgewinnung waren progressiv gestaffelt. Sie reichten von 100 Gulden für einen Reichsfürsten bis zu einem Viertelgulden für Kleinverdiener; gänzlich Mittellose konnten ihn auch durch Fasten und Gebet anstelle einer Geldzahlung erlangen.
Bei der Fritzlaer Urkunde handelt es sich um einen Beichtbrief (Confessionale), das heißt um eine rechtsförmliche Bescheinigung, die es einem frei wählbaren Beichtvater erlaubte, nach Ablegung der Beichte den Ablass aus päpstlicher Gnade zu erteilen. Die einfache Absolution konnte mehrfach, die vollkommene einmal im Leben und bei der Spendung der Sterbesakramente erfolgen. Beide Formeln sind im Anschluss an den eigentlichen Urkundentext abgedruckt.
Die Urkunde, deren Original nur etwa die Hälfte eines Din A 4-Blattes misst, wurde auf ein Stück Pergament vorgedruckt. Es ist überaus bezeichnend, dass man zur Herstellung der Ablassurkunden auf das moderne Medium Buchdruck zurückgriff, mit dem sich hohe Stückzahlen gleichförmiger Texte produzieren ließen (für Konstanz ist die Zahl von 2025 Beichtbriefen für das Jahr 1514 bezeugt); bereits 1454/55 waren die ersten Ablassbriefe von Johannes Gutenberg in Mainz gedruckt worden. Der Druck der Fritzlaer Urkunde stammt von Johann Schöffer, dessen Vater zu den Mitarbeitern Gutenbergs gehört hatte und dann die Offizin übernommen hatte. Der vorgedruckte Text ließ Lücken für Namen, Ausstellungsort und Datum, mit dem sich das Formular personalisieren ließ, anschließend wurde sie besiegelt (das Siegel ist im vorliegenden Exemplar verloren, nur die Einschnitte im Pergament, an denen es ursprünglich befestigt war, sind noch zu erkennen). Da die Urkunden ihre Wirksamkeit mit dem Tod verloren und mit der Durchsetzung der Reformation bald in Misskredit gerieten, war ihre Überlieferungschance ausgesprochen gering, und es haben sich deshalb nur wenige Einzelstücke erhalten. Die Urkunden in Berlin, Mühlhausen, München, Wolfenbüttel und Marburg weisen zudem charakteristische Textabweichungen voneinander auf. Beispielsweise fehlen im vorliegenden Exemplar in Zeile 2 der Zusatz „ecclesiarum“ zu „Halberstattensis“ (Adminsitrator der Kirche von Halberstadt) und Teile der Ablassformel, und in Zeile vier wurde die Abfolge der Diözesen nach deren Bedeutung abgeändert. Auch diese Abweichungen sprechen für eine ursprünglich hohe Anzahl von Urkunden, die nacheinander aber auch nebeneinanderher gedruckt wurden.
Wie alle Urkunden ist auch die Ablassurkunde ein Rechtsdokument, das genaue Aussagen über die Bedingungen und Formen des Ablasses trifft. Es besteht im Wesentlich aus vier Teilen: Zunächst nennen sich die päpstlichen Ablasskommissare Erzbischof Albrecht und der Guardian des Mainzer Franziskanerklosters. Als Volksprediger engagierten sich die Bettelmönche in besonderer Weise für den Ablass (der als Generalsubkommissar in den Bistümern Halberstadt und Magdeburg wirkende Johannes Tetzel war Dominikaner). Dann folgt ein nahezu wörtlicher Auszug aus der Ablassbulle (littera) Papst Leos X. vom 31. März 1515, in dem der Umfang des Ablasse bestimmt wird: Er umfasst den Erlass der Sünden, die Möglichkeit zur Umwandlung von (nicht eingelösten) Verlöbnissen und die Ausdehnung der frommen Werke der Kirche auf die verstorbenen Eltern. Während der Papst die Vergebung schwerster Vergehen, sogar die Lösung vom Kirchenbann, in Aussicht stellte, blieben einige Tatbestände von der Vergebung ausdrücklich ausgenommen: Ränke gegen das Papsttum, Gewalttaten gegen Bischöfe und hohe Kleriker, die Fälschung päpstlicher Urkunden, der Waffenhandel mit den Ungläubigen und – den vorangehenden Tatbeständen vollkommen gleichgeordnet – der Alaunhandel zum Schaden der päpstlichen Gruben in Tolfa, einem wichtigen Standbein der apostolischen Finanzen. Im dritten Teil werden diese Gnaden dem Erwerber des Briefs persönlich zugesprochen, im vierten sind die Absolutionsformeln vorgedruckt, die der Beichtpriester zu sprechen hat. Es ist besonders befremdlich, dass gerade diese Formeln in den unterschiedlichen Fassungen der Beichtbriefe anscheinend beliebig variiert werden konnten: Während in anderen Exemplaren zwischen Kirchenstrafen und Sünden unterschieden wurde, sind im vorliegenden pauschal alle Sünden inbegriffen. Schließlich werden auch die Strafen des Fegefeuers erlassen, freilich mit dem entscheidenden Zusatz „[...] soweit sich die Schlüsselgewalt der heiligen Mutter Kirche erstreckt“, einer Art „Optout-Klausel“ der Aussteller, die bei genauem Lesen Raum für beunruhigende Ungewissheiten eröffnete. Es bleibt aber fraglich, ob sich die subtilen theologischen und kirchenrechtlichen Darlegungen selbst einem Angehörigen der städtischen Oberschicht wie dem Fritzlarer Schöffen Cyriak Iring in ihrer Bedeutung erschlossen haben, oder ob nicht vielmehr alleine die Verbindung von Geldzahlung und Absolutionsversprechen, die durch die visuelle Verbindung von Kreuz und Ablasskiste noch verstärkt wurden, die Wahrnehmung des Ablasses bestimmte. Mit der Sprache (Latein), dem gewählten Layout mit einem klein gedruckten, dicht gedrängten und stark gekürzten Text und dem schwer zugänglichen Inhalt waren die Urkunden jedenfalls kaum zum Lesen und Verstehen bestimmt. An dieser Ablasspraxis entzündete sich Luthers Kritik. Sie blieb aber nicht dabei stehen, sondern führte ihn zu den viel grundsätzlicheren Fragen nach der Verfügungsgewalt der Kirche über einen Gnadenschatz, nach der Autorität des Papstes, dem Primat von Bibel oder Tradition, der göttlichen Barmherzigkeit und der Rechtfertigung und dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch überhaupt – und damit zu einer neuen Theologie.