Die ersten Universitäten entstanden am Ende des 12. Jahrhunderts in Italien (Bologna) und Frankreich (Paris); von hier aus verbreitete sich die Universitätsidee in ganz Europa. Die Selbstbezeichnung als „universitas“ (universitas magistrorum et scolarium) oder „studium generale“ verweist darauf, dass die neuen Bildungseinrichtungen dank päpstlicher und fürstlicher Privilegierung Selbstverwaltungsorganisationen mit weitgehenden Freiheiten (Graduierungsrecht, eigener Gerichtsstand, Steuerfreiheit etc.) waren. Aufgrund identischer Lehrinhalte und einer gegenseitigen Anerkennung der akademischen Grade besaßen sie zudem einen universellen Charakter. In das 15. Jahrhundert fällt die „zweite Gründungswelle“ von kleiner dimensionierten Landesuniversitäten in den einzelnen Territorien. Sie waren fürstliche Prestigeobjekte, dienten der Profilierung des Landes durch die Schaffung von Bildungszentren und der Heranbildung von Akademikern, besonders von Juristen, für die neu geschaffene und expandierende Landesverwaltung. Für Hessen gibt es Hinweise, dass bereits Landgraf Wilhelm II. (1469–1509) die Gründung einer eigenen Universität beabsichtigte. Deshalb war es nur konsequent, dass Landgraf Philipp für das verspätete, aber dann von ihm mit Nachdruck ausgebaute Territorium Hessen eine eigene Universität schuf. Er siedelte sie in der zentral gelegenen Residenzstadt Marburg an, in der bereits das Samthofgericht installiert war, sodass besonders für die Juristen eine Verbindung von Studium und Verwaltung gegeben war. Dazu kam die Funktion der Universität als Zentrum der neuen Lehre: Die Universität Marburg war die erste protestantische Universitätsgründung im Alten Reich (wenn man von der nur kurz existierenden Universität Liegnitz (Legnica/PL) absieht).
Diese doppelte Funktion wird auch in der Einleitung der Urkunde deutlich, mit der Philipp der neuen Universität 1529 die notwendigen Freiheiten verlieh: Wie die meisten Eröffnungsdokumente von Universitäten lobt sie die Wissenschaften und fand dafür besonders schöne Worte: Die aufblühenden Wissenschaften seien wie Edelsteine, die man nicht mit Füßen treten dürfe. Die ganze Einleitung ist von dem Gedanken getragen, dass Gott die Studien aufblühen lasse und sie auch wieder wegnehmen könnte, wenn die Menschen sich ihrer nicht als würdig erwiesen. Dahinter steht die alte Vorstellung von einer „Translatio studii“, des Übergangs der Bildung von den Griechen über die Römer auf die Franken und ihre Erben. Sie spielte im humanistischen Nationendiskurs eine Rolle, blieb hier aber im Bereich des Theologischen und vor allem Evangelischen: Denn mit den Studien würde auch das Evangelium, die evangelische Lehre, niedergehen, ja es würde zu schlimmeren Zuständen kommen als je zuvor. Damit verbindet sich eine Apologie gegen den Vorwurf, die Evangelischen schätzten die Wissenschaften nicht, oder, wie es auf Blatt 17v etwas umständlich heißt: dass übelmeinende Menschen meinen könnten, durch das aufgehende Evangelium würden alle Studien umgestoßen. Dieser Vorwurf war bspw. 1523 von Eobanus Hessus geäußert worden. Tatsächlich hatten Luthers Lehren zu Beginn der 1520er Jahre zunächst eine Bildungskrise und, damit verbunden, eine Frequenzkrise an den Universitäten ausgelöst, weil mit dem kirchlichen Pfründenangebot ein wesentlicher Teil der Versorgungsmöglichkeiten von Universitätsbesuchern in Frage gestellt wurde. Reformatoren und evangelische Landesherren bemühten sich deshalb um eine Transformation des Bildungswesens im Sinne der neuen Lehre.
Die Universität Marburg war am 30. Mai 1527 eröffnet worden und wurde von Landgraf Philipp in einer raschen Abfolge von Maßnahmen ausgestaltet. Der Freiheitsbrief war ein wesentlicher Schritt in dieser Reihe. Nicht alle Regelungen, die er enthält, wurden auch verwirklicht (bspw. die Einbeziehung der beiden hessischen Kollegiatstifte in Kassel und Rotenburg oder die Einrichtung einer Grammatikprofessur nicht). Die Dotationsurkunde für die Universität wurde erst 1540 ausgestellt und ihre endgültige Gestalt nahm das Marburger „studium generale“ erst im folgenden Jahrzehnt und nach der Reform von 1564 an. Aber der Freiheitsbrief enthält sozusagen die fürstliche Idee von der neuen, evangelischen Landesuniversität.
Philipp stattete sie mit dem Säkularisationsgut der aufgehobenen Klöster aus: Mit den Bauten des Marburger Dominikaner- und Franziskanerklosters und Kugelherrenhauses (Brüder vom gemeinsamen Leben), in die die neuen Kollegien einzogen, mit Büchern aus Klosterbesitz, die zunächst auf dem landgräflichen Schloss zusammengezogen wurden (vgl. Bl. 17r: „bibliothec uff unserm schlos doselbst“), um dann im „collegium Pomerii“, einem Flügel des ehemaligen Franziskanerklosters, aufgestellt zu werden, und mit den Wirtschaftserträgen von insgesamt 14 Klöstern. Die Umwidmung von Kirchengut für die Gründung einer Universität war nichts Ungewöhnliches, denn die Universitäten verstanden sich, abgeleitet vom christlichen Lehramt, als kirchliche Einrichtungen. Viele Universitäten waren deshalb mit einem Kollegiatstift verbunden, mit dessen Pfründen die Professoren versehen wurden. Für eine solche Umwidmung bedurfte es aber der Zustimmung des Papstes, sie war deshalb ebenfalls Teil der päpstlichen Privilegien, die bisher am Beginn aller Universitätsgründungen gestanden hatten. Philipp gründete seine Universität dagegen aus eigener Machtvollkommenheit ohne, man könnte auch sagen: gegen den Papst. Auch um ein kaiserliches Privileg bemühte er sich nicht. Das führte zu dem kleinen Makel, der in Absatz 14 (Bl. 27r) der Urkunde eingeräumt wird, dass der Universität das Promotionsrecht fehlte. Denn der Kaiser galt als Ursprung aller Titel, adliger wie akademischer, und delegierte das Promotionsrecht per Privileg an die Universitäten. Philipp musste es zunächst mit der Absichtserklärung bewenden lassen, sich um ein solches Privileg zu bemühen. Einen ersten Versuch lehnte König Ferdinand 1531 kühl mit der Bemerkung ab, er wisse sich nicht zu erinnern, dass zu Marburg eine Universität bestehe. Doch während der Phase der Annäherung Philipps an Kaiser Karl V. sollte es ihm 1541 gelingen, ein entsprechendes Privileg und damit die Anerkennung der Universitätsgründung zu erwirken.
Die klassische Universität bestand aus der großen Artistenfakultät, die die Sieben Freien Künste (Sprachwissenschaften: Grammatik/Rhetorik/Dialektik; Zahlenwissenschaften: Arithmetik/Geometrie/Musik/Astronomie) vermittelte und den Bakkalaren- und Magistertitel zu vergeben hatte. Daran schlossen sich die weitaus elitäreren höheren Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin an, in denen man zum Lizentiaten und Doktor promoviert werden konnte. In der Marburger Universität waren die Fakultäten durchlässiger, die Theologiestudenten sollten schon während des Artes-Studiums einige theologische Vorlesungen hören. Daran zeigt sich die neue Ausrichtung der Universität. Auch das von Philipp bestellte Personaltableau trägt dem Rechnung: Zwei Theologen (je einer für das Alte und Neue Testament), drei Juristen, zwei Mediziner für die höheren Fakultäten; für die Artistenfakultät ein Hebraist und ein Gräzist, zwei Rhetoriker, ein Dialektiker, ein Mathematiker und ein Grammatiker, auf den man später wieder verzichtete. Das Lehrprogramm der Artistenfakultät, das mit „Künste und Sprachen“ umschrieben wird, ist sehr deutlich von dem humanistischen Bildungsprogramm beeinflusst, das Philipp Melanchthon entworfen hatte: Es ist der Kanon der wichtigsten antiken Schriftsteller von Homer bis Ovid, die das traditionelle, auf Aristoteles ausgerichtete Bildungsprogramm ergänzte. Dazu gehörte auch, dass Melanchthon den Sieben Künsten zwei weitere, die Historie und Poetik, anfügte: In Marburg sollte es eine eigene Humanistenlektur geben, die bislang stets außerhalb der Universitätsorganisation gestanden hatte, und 1527 mit Reinhard Lorichius aus Hadamar (†1564), 1536 dann mit dem ungleich bekannteren Eobanus Hessus (1488–1540) besetzt wurde. Auch die Geschichte, die im mittelalterlichen Wissenschaftssystem keinen eigenen Platz besessen hatte, gelangte über Melanchthon als autonomes Fach in die Universitätslehre. Als Professor für klassische Literatur und Geschichte sollte der Humanist Hermann von dem Busche (1468–1534) Livius, Caesar, Valerius Maximus, Sallust, Orosius, Sueton, Tacitus und andere Klassiker der Historiographie lesen. Zusammen mit Franz Lambert von Avignon gehörte von dem Busche zu den ersten für Marburg geworbenen Professoren.
Die neue Universität wurde in eine bestehende Universitätslandschaft hineingegründet, die von der altkirchlichen Universität Erfurt bestimmt war, die bislang die meisten Hessen zum Studium bezogen hatten, ferner von Leipzig und der erst 1502 gegründeten Universität Wittenberg, die mit Luther und Melanchthon das Zentrum der reformatorischen Universitätslehre bildete. Mit den fehlenden Privilegien und dem neuen evangelischen Bildungsprogramm stellte sich die Universität zugleich außerhalb des Universalismus der mittelalterlichen Universität. Zudem fällt die Gründung, wie bereits erwähnt, in eine allgemeine Frequenzkrise. Deshalb war die Sorge nicht ganz unbegründet, dass die neue Universität von den Studenten nicht gut angenommen würde. Der Freiheitsbrief reagierte darauf mit der bemerkenswerten Regelung, dass der Besuch der gewöhnlichen Vorlesungen (prelectiones ordinarias) des Pädagogiums und der Universität unentgeltlich sein sollte (Bl. 19; hier nicht transkribiert). Darüber hinaus entwarf der Landgraf eine einzigartige Neuerung, die die Urkunde auf den originellen Begriff „Studenten kaufen“ bringt: Nicht nur bei den Professoren sollte ein Wettbewerb um die besten („beromptest“) Köpfe herrschen, sondern auch bei den Studenten. Lokale Kirchenpfründen aus dem unterpfarrlichen Bereich – also von Kaplänen und Altaristen – wurden zu Stipendien umgewidmet, mit denen Universitätsbesucher nach Marburg gesandt werden konnten. Nebenbei beanspruchte der Landgraf damit das Leiherecht über diese Pfründen („unsere geistlichen Lehen und Pfründen“). Zwar hatte es auch an allen anderen Universitäten eine Vielzahl „privater“ Stipendienstiftungen gegeben, und es war auch Gang und Gäbe, Pfründinhaber von der Residenzpflicht zu entbinden, damit sie von den Einkünften ein Studium bestreiten konnten. In Marburg erhielt dieses Prinzip nun aber System, und die Urkunde entwirft ein detailliertes Verfahren, um dieses System in Gang zu setzen: Kleinere Pfründen sollten vereinigt werden, bis sie einen garantierten Ertrag von 15 Gulden abwerfen, die lokalen Amtsträger haben das Vorschlagsrecht, die Auswahl bleibt aber der Universitätsspitze, Rektor und Dekan, in Marburg vorbehalten. Entschieden sie sich gegen einen Kandidaten, hatten sie ein „Feedback“ zu geben, damit sich die Kenntnis über die anzulegenden Kriterien langsam im Land verbreitete. Höhe und Dauer des Stipendiums waren begrenzt, Ausnahmen konnte es bei der Dauer, nicht bei der Höhe geben. Möglich waren solche Regelungen durch die großzügige Finanzausstattung, die durch den starken Zugriff auf das Kirchengut für die neue Universität zur Verfügung stand. Um Kollatoren von Privatstiftungen, die häufig eingerichtet worden waren, um Verwandte oder Protegés zu versorgen, dazu zu bewegen, dass sie es dem Landgrafen gleichtaten und ihre Stiftungen ebenfalls in Studienstiftungen umwandelten, wurde ihnen eingeräumt, weiterhin Klientelwirtschaft zu betreiben. Hauptsache die Pfründen dienten dem Studium und wurden dem Prinzip der anderen Stipendien angeglichen. Die Stipendien wurden in der bis heute bestehenden „hessischen Stipendiatenanstalt“ vereint, die eine wichtige Rolle für die Konstituierung und Verflechtung des hessischen Pfarrerstandes in der Frühen Neuzeit spielte und Modellcharakter für andere Universitäten besaß, beispielsweise für das 1536 gegründete Tübinger Stift.
Die weiteren Abschnitte der Urkunde treffen Bestimmungen über das ebenfalls gegründete Pädagogium, eine propädeutische, den Universitätsbesuch vorbereitende Schule, die Kollegien, in denen die Universitätsbesucher wohnten und – auch das ist neu – gestaffelt nach ihren finanziellen Möglichkeiten, also zu einem „Sozialtarif“ verköstigt wurden, und schließlich über die universitären Freiheiten, Charakteristikum und Kern des „studium generale“ schlechthin: Die Universität erhält die niedere Gerichtsbarkeit, persönlich übertragen an den Rektor, der gleichzeitig dem Landesherrn verpflichtet wird, während die übrigen Universitätsangehörigen auf den Landesherrn und ihn verpflichtet werden. Die Universität bildete damit eine Sonderrechtsgemeinschaft innerhalb der Stadt (wie man sich denken kann, nicht immer zu deren ungeteilter Freude). Die Universitätsangehörigen genossen Zollfreiheit, erhielten freies Brennholz und eine Befreiung von der Verbrauchssteuer auf Wein, etc. Zu den rechtlichen Einschränkungen, denen sie unterworfen waren, gehört auch das Verbot von Glaubensabweichung („Sekten“). Damit wird en passant noch einmal die evangelische Prägung der Universität festgeschrieben.
Die Urkunde selbst ist nur als Abschrift überliefert, in einer wohl nach 1575 zusammengestellten Sammelhandschrift, die vermutlich dem Rektor zur Orientierung über die wichtigsten Dokumente der Hochschule diente. Mindestsens zwei verschiedene Benutzerhände lassen sich unterscheiden, die später den Text durch Anstreichungen und die Markierung von Sinnabschnitten für sich erschlossen und Anmerkungen darin angebracht haben. An Sätzen wie „Geistliche Pfründen bei den Städten stehen dem Fürsten, nicht den Städten zu!“ oder „Rektor und Dekan zu Marburg sollen darauf achten, dass die Stipendiaten jederzeit von den Städten und Familien geschickt werden!“ kann man ihr Interesse und spätere Problemlagen ablesen.
Die Abschrift wurde offenbar von einem Lohnschreiber angefertigt, der, wie üblich, nach Schreibleistung bezahlt wurde und dem Inhalt nicht an jeder Stelle folgen wollte oder konnte. So entstanden sinnentstellende Verschreibungen wie „Theorici“ für Theokrit, „spericum“ für „sphericum“ oder „Gudensberg“ für „Rotenburg“. Das vom Landgrafen besiegelte Original ging offenbar bei der Universitätsspaltung im 17. Jahrhundert verloren. Zu diesem Zeitpunkt waren die wichtigsten Rechte bereits realisiert. Der Verlust des besiegelten, damit rechtsgültigen und auch visuell „vorzeigbaren“ landgräflichen Privilegs scheint der Universität daher später nicht weiter geschadet zu haben.