Gedruckte Bibelübersetzungen gab es schon vor Luther. Die bedeutendsten von ihnen entstanden in den Offizinen von Johannes Mentelin in Straßburg, Günther Zainer in Augsburg und Anton Koberger in Nürnberg. Aber sie erschienen in kleinen Auflagen zu hohen Preisen und häufig in einer Sprache, die noch ganz dem Lateinischen verhaftet war. Deshalb blieben sie denjenigen vorbehalten, die den Text erwerben und für sich erschließen konnten.
Es entsprach jedoch der Überzeugung Luthers, dass jeder Gläubige unmittelbaren Zugang zum Gotteswort erhalten könnte und auch erhalten sollte, und das bedeutete sowohl Zugang zu einer physischen Band der Bibel, als auch einen verstehenden Zugang zu ihrem Text. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 forderte er, die Bibel solle die erste Lektüre für die Theologen sein und es „solt in den hohen unnd nydern schulen“ – also dort, wo Lesekenntnisse erworben wurden – „die furnehmst und gemeynist lection sein die heylig schrifft“, und zwar nach Möglichkeit gleichermaßen für Buben und Mädchen. Den durch die Reichsacht erzwungenen Aufenthalt auf der Wartburg 1521/22, nutzte er dazu, das Neue Testament ins Deutsche zu übertragen, wofür er nur elf Wochen Zeit benötigte. Charakteristisch für Luthers Bibelübersetzung ist, dass er sich von den starren lateinischen Konstruktionen löste und versuchte, den Sinn des Textes zu erfassen und zu vermitteln. Der Erfolg dieses Unternehmens sprach für sich: Der Druck erschien im September 1522 bei Melchior Lotter in Wittenberg und war trotz einer Auflagenhöhe von geschätzten 3.000 Stück innerhalb von nur wenigen Wochen vergriffen. Die umfangreichere Übersetzung des Alten Testaments wurde dann von Luther nicht mehr alleine vorgenommen, aber noch von ihm koordiniert. Die einzelnen Bücher erschienen jeweils unmittelbar nach dem Abschluss der Übersetzung als Einzeldrucke; 1534 sollte dann die vollständige Lutherübersetzung der Bibel vorliegen.
Noch vor diesem Datum, also vor der Fertigstellung der Gesamtausgabe, machte sich Landgraf Philipp von Hessen, der selbst ein fleißiger Bibelleser war, Luthers Forderung nach der Bibellektüre für den Laien zu eigen und ordnete den Druck einer hessischen Ausgabe des Neuen Testaments an, die zu einem festgesetzten Preis an alle Kirchen des Landes abgegeben werden sollte: Damit sollte sichergestellt werden, dass die Pfarrer ihr „Singen und Lesen“, also die Katechese, an der Lutherbibel ausrichteten. Darüber hinaus sollten diese Bibeln für jedermann zugänglich aufbewahrt werden, damit auch Arme, die nicht in der Lage waren, ein eigenes Exemplar zu erwerben, die Möglichkeit zu eigenständiger Bibellektüre erhielten: 30 Weißpfennige (Alben) entsprachen etwas mehr als einem Gulden; das war ein für ein umfangreiches Druckwerk angemessener, für die meisten Menschen aber immer noch unerschwinglicher Preis (für 30 Alben konnte man 1528 etwa zwei Kasseler Viertel [1 Viertel = 160,7 Liter] Roggen oder anderthalb Viertel Gerste bzw. Weizen oder beinahe vier Schafe kaufen). Am 29. Juni wurde der Keller bzw. Schultheiß von Limburg noch einmal eigens dazu gemahnt, den ergangenen Befehl auch auszuführen.
Der Bestimmung der Bücher sollte ihre Aufmachung entsprechen, die in dem Mandat ebenfalls festgelegt wird: Sie sollten in „groben Lettern“ gesetzt sein. „Grobe“ Lettern ist ein Fachwort aus der Druckersprache und meint Schriften, bei denen der Buchstabe den Schaft („Kegel“) der Drucktype weitestgehend ausfüllt. Auf dem wenigen Raum, den der Bleisatz für den Einzelbuchstaben vorgab, konnte so ein möglichst großer Schriftgrad erreicht und die Lesbarkeit des Textes erhöht werden. Der Großauftrag für „unseren Drucker in Marburg“ ging an Franz Rhode, der 1528 von Wittenberg nach Marburg gekommen war und die Werkstatt des im selben Jahr verstorbenen ersten Marburger Buchdruckers Johannes Loersfeld übernommen hatte. Am 23. Januar 1529 legte er die erste Ausgabe mit dem knappen Titel „Das Newe Testament | Deutsch“ vor (VD16 B 4393), ein stattlicher Band von 317 Blatt im Folioformat in schlichter, aber eleganter drucktechnischer Gestaltung. Den offiziellen Auftrag brachte nicht nur ein Wappenschild mit dem großen Herrscherwappen Philipps auf dem Titelblatt zum Ausdruck, sondern auch der Abdruck des landesherrlichen Mandats auf einem dem Titelblatt vorgeschalteten Blatt (mit leicht abweichendem Text und Datum 17. Mai 1528). Hier ersetzte der Drucker, der auch Geschäftsmann war, die Fixierung des Preises auf 30 Weißpfennige freilich durch die unbestimmtere Formulierung „ynn zymlichen wert, wie es dann taxiert worden ist.“ Sonst hielt er sich exakt an die Vorgaben: Der Bibeltext wurde in einer großen, von ihm für diesen Druck vermutlich eigens angeschafften Type gesetzt (nur 30 Zeilen pro Blatt), die von ihm sonst nur als Auszeichnungsschrift verwendet wurde, und blieb „ohne allen Zusatz“, auch ohne die Vorreden und Erläuterungen Luthers. Die Druckstöcke zu den Textabbildungen hatte Rhode nach Marburg mitgebracht. Im April erschien eine zweite, veränderte Ausgabe (VD16 B 4395); eine dritte Ausgabe stellt eine Mischform der beiden anderen dar (VD16 B 4394). Man wird mit einer Auflage von etwa 800 Stück rechnen können. Gerhard Müller hat außerdem eine französische Ausgabe erschlossen, die ebenfalls 1529 bei Rhode in Marburg gedruckt worden sei, von der sich aber bislang kein Exemplar nachweisen lässt.
Diese Bibeldrucke entstanden noch bevor Rhode am 2. September 1530 durch seine Eintragung in die Universitätsmatrikel das akademische Bürgerrecht erwarb und zeigt ihn in seiner Funktion als „Landesdrucker“, der die Landgrafschaft mit wichtigen reformatorischen Texten (außer der Bibel auch der sächsischen Visitationsordnung, den großen und kleinen Katechismus und weitere Schriften Luthers, die „Marburger Artikel“, etc.) versorgte, während er als „Universitätsbuchdrucker“ die gelehrten Erzeugnisse der evangelischen Landesuniversität verlegte.
Bereits 1349 wurde im nordhessischen Wolfhagen beurkundet, dass der Pfarrrektor Hermann Byseworm testamentarisch eine Bibel gestiftet hatte, die zum öffentlichen Nutzen aller Gebildeten (ad commune bonum omnium litteratorum) angekettet, und das heißt: zur freien Benutzung, im Chor der Kirche ausliegen sollte. An dieser Stiftung, die zudem vereinzelt steht, kann man nachvollziehen, was Bibellektüre in der Mitte des 14. Jahrhunderts bedeutete: Durch Anbringunsgort (der abgeschrankte, nicht für jedermann zugängliche Chor) und Zweckbestimmung (für die „litterati“, die Gebildeten) war das wertvolle, handgeschriebene Buch mit dem lateinischen Text einem kleinen Kreis von Gebildeten vorbehalten. Von hier aus wird noch einmal das Anliegen des Landgrafen deutlich, der auf das moderne „Massenmedium“ Druck setzte, um die deutsche Bibel flächendeckend im ganzen Land zu verbreiten, und dabei ausdrücklich nicht nur die Pfarrer, sondern auch die Gemeindemitglieder, und insbesondere die armen unter ihnen, im Sinn hatte. Was blieb, war die Hürde der Lesefähigkeit (der „litterati“ im weiteren Sinn des Wortes). Zu Beginn der Reformation waren nach vorsichtigen Schätzungen nur etwa 10–30 % der städtischen (!) Bevölkerung lesekundig, und erst mit dem Ausbau des Elementarschulwesens nahm diese Zahl zu.
Die beiden Bibelexemplare des Staatsarchivs Marburg (XI A 1488) stammen aus den Kirchen von Neukirchen und Neuhof; weitere sind aus den Pfarreien Schrecksbach und Hopfgarten (Schwalmtal) sowie aus Oppenheim bekannt. Die Bibeln hatten ihre Adressaten also offensichtlich erreicht, und damit hatte sich auch die Absicht erfüllt, zumindest in jeder Pfarrei die Lektüre der Lutherübersetzung zu ermöglichen. Zugleich trugen die „Hessenbibeln“ zur Ausbildung einer eigenen Landeskirche und der Festigung einer konfessionell begründeten Landesidentität bei.