Martin Luther Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543 gehört zu den trübsten Kapiteln seiner publizistischen Tätigkeit. Sie reagierte wohl auf Sebastian Münsters wenige Jahre zuvor erschienenen Messias-Dialog (Basel: Heinrich Petri, 1539; VD16 M 6720). Um die jüdische Position hinsichtlich der Messias-Erwartung und der Messianität Jesu zu widerlegen, sammelte Luther die alttestamentlichen Messias-Zeugnisse und legte sie im Licht des neutestamentlichen Christusglaubens aus. Davon ausgehend forderte er, Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen, weil sie die Christen angeblich bedrohten. Wenn man sie aus den protestantischen Territorien nicht gänzlich vertreiben wolle, solle man ihnen mit „scharff[er] barmtzigkeit“ begegnen, um sie zu zermürben, und schließlich zur Annahme des Glaubens an Jesus Christus zwingen. In diesem Zusammenhang wiederholte er nahezu alle gängigen Judenstereotype: Die Juden lästerten das Christentum, trieben Wucher, seien Landesverräter, etc. Luther revidierte damit vollständig Ansichten aus früheren Schriften (Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, Wittenberg: Melchior Lotter d.J., 1523; VD16 L 4315 – mehrere Nachdrucke), in denen er zum Verhältnis von Juden und Christen einen konzilianten Ton angeschlagen hatte. Die frühe Reformation mit ihrer Forderung nach einer Rückkehr zum Evangelium hatte zunächst auf beiden Seiten Interesse und Erwartungen geweckt. Der Umschwung kündigte sich 1538 an, zu einer Zeit der inneren, dogmatischen Ausgestaltung der neuen Lehre und ihrer äußeren Abgrenzung.
Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert verschlechterte sich die Situation der Juden allgemein in Europa. Beginnend mit der Ausweisung der großen Judengemeinden aus Spanien (1492) und Portugal (1497) wurden sie aus zahlreichen Territorien und Städten vertrieben. 1507–1509 begann eine Kampagne zur Beschlagnahme und Zerstörung aller jüdischer Bücher bis auf die hebräische Bibel, die das Ziel hatte, eine weitere Ausübung der jüdischen Religion zu verunmöglichen. Der Kaiser spielte dabei eine ambivalente Rolle: Einerseits gewährte er Juden Schutzprivilegien, anderseits stimmte er den Judenvertreibungen zu, insbesondere in den österreichischen Erblanden, in denen er Landesherr war. Den Schutzpflichten, die ihm als Reichsoberhaupt zukamen, wurde er damit nur sehr ungenügend gerecht. Ähnlich uneinheitlich stellte sich die Situation in Hessen dar: 1516 beteiligte sich Landgräfin Anna an Beratungen in Mainz über eine allgemeine Judenvertreibung in den umliegenden Territorien. Tatsächlich verbot das hessische Policeymandat von 1524 – eher beiläufig – auch die Ansiedlung von Juden, wurde aber wohl nicht umgesetzt. Nachdem in der Reichs-Policeyordnung von 1530 die allgemeine Duldung festgesetzt worden war, erhielten die Juden in Hessen ein auf sechs Jahre befristetes Schutzmandat. Nach seinem Ablauf bereitete man in Kassel eine Judenordnung vor, die 1539 fertiggestellt wurde. Sie war die erste umfassende Judenordnung eines protestantischen Territoriums überhaupt. Im Vorfeld dazu entstanden im Umfeld des Landgrafen ein Vorschlagskatalog und, als Reaktion darauf, ein Gutachten bedeutender Theologen, das von scharfer antijudaistischer Polemik gekennzeichnet ist und harte Restriktionen gegen die Juden fordert. Gezeichnet war es von Marin Bucer, Johann Kymeus, Dionysius Melander d. Ä., Johann Lenning, Justus Winter, Johannes Pistorius Niddanus d. Ä. und Kaspar Kauffunger. Von Landgraf Philipp ist dazu eine bemerkenswerte Stellungnahme überliefert, in der er aus der Bibel begründete, dass man den Juden nicht mit solcher Härte begegnen dürfe. Anderseits willigte er 1539 in die Vertreibung der Juden aus der sächsisch-hessischen Kondominatsherrschaft Berka (in Kursachsen war ihre Niederlassung gänzlich verboten) mit der Begründung ein, dass von den Juden „nicht viel Ehr oder Nutzes“ zu erwarten sei. Wie bei den meisten Landesherren war auch die Haltung des Landgrafen von rein pragmatischen und fiskalischen Gesichtspunkten bestimmt.
Die Judenordnung von 1539 folgte im Wesentlichen dem Gutachten der Theologen, sie enthielt Handelsbeschränkungen, verbot Disputationen in Glaubensfragen mit Christen (die man offenbar besonders fürchtete), die Lästerung von Christus und dem Christentum, darüber hinaus den Talmud und den Bau neuer Synagogen und verlangte, dass Juden Predigten zu ihrer Bekehrung hören müssten.
Das von Luther Ende 1542 fertiggestellte Pamphlet „Von den Juden“ wurde Landgraf Philipp bezeichnenderweise von zwei Theologen überreicht, die bereits an dem Gutachten von 1538 mitgewirkt hatten. Mittlerweile hatte sich seine ablehnende Haltung weiter verstärkt: Nach Aussage des Schreibens fand die Schrift seine volle Zustimmung, namentlich ihre Aussagen über den Messias, aber doch wohl auch ihr Tenor insgesamt. Aus dem Jahr 1543 ist das Konzept zu einer weiteren Judenordnung erhalten, die die bereits verhängten Maßnahmen weiter verschärfen sollte, und nun auch verlangte, die Bücher der Juden zu kontrollieren und verdächtige Schriften zu vernichten oder zur Begutachtung nach Marburg zu senden. Infolge dieser Entwicklung verließen zahlreiche Juden zu Beginn der 1540er Jahre Hessen.
Der sich ausdifferenzierende, konfessionell geschlossene Untertanenstaat war intolerant. Mit der Unterordnung der Kirchenhoheit unter die landesfürstlichen Hoheitsrechte, wurden abweichende Bekenntnisse nicht mehr geduldet. Bucer hatte bezeichnenderweise argumentiert, es sei Aufgabe des Fürsten, für die eine wahre Religion einzutreten. Derselbe Bucer, der den Täufern zur selben Zeit theologische Angebote machte, um sie zu integrieren, grenzte sich durch grobe Ausfälle gegenüber den Juden von allem nicht-christlichen ab. Durch die Beschlagnahmung des Talmud sollte die jüdische Glaubenspraxis von der nachbiblischen Tradition abgetrennt werden, die man ebenso wie die römische Kirche für eine Abirrung von den ursprünglichen Grundlagen hielt. All diese Maßnahmen zielten auf die Alternative „Bekehrung“ oder Vertreibung. Schon 1538 war Landgraf Philipp der Meinung, die Juden allenfalls noch ein bis zwei Jahre in seinem Land dulden zu wollen. Toleranz im Sinne von religiöser Pluralität war dem 16. Jahrhundert unbekannt. Ein relativ ungestörtes religiöses Leben zu führen, wurde für die Juden deshalb zunehmend schwieriger. Zwar ergaben sich immer wieder Nischen, weil der frühneuzeitliche Obrigkeitsstaat in der Praxis nicht so „durchregierte“, wie es seine Verlautbarungen glauben machen. Doch diese Nischen wurden kleiner. Hinzu kam ein tiefsitzender Antijudaismus, den Martin Luther mit vielen Zeitgenossen teilte.
Dass das keineswegs so hätte sein müssen, zeigt der Blick auf Johannes Reuchlin (1455–1522): Der württembergische Jurist betrieb aus humanistischem und theologischem Interesse intensive Hebräischstudien. Selbst nicht frei von Antijudaismus und dem Gedanken der Judenmission, stellte er sich 1510 in einem „Ratschlag“ für den Kaiser gegen die Vernichtung der jüdischen Bücher, sprach sich für den Schutz der Juden und ein Lernen aus ihrer Überlieferung aus. 1511 verwies er auch darauf, dass die christliche Kirche bislang 1400 Jahre lang hingenommen habe, dass die Juden Jesus nicht als den Messias anerkannten. Für diese Positionen wurde er bald in eine heftige öffentliche Kontroverse verwickelt. Der „Judenbücherstreit“, führte zu einer Ausdifferenzierung des Humanismus und trug langfristig zur Verfestigung der reichsrechtlichen Stellung der Juden bei. Reuchlin blieb aber letztendlich ein Solitär. Zu seinen Schülern zählt Andreas Osiander in Nürnberg; auch Luther hatte ihn zunächst unterstützt. Als 1543 dann Luthers Schrift erschien, meinte Heinrich Bullinger in Zürich, in der Person Luthers seien die drei heftigsten Gegner Reuchlins wieder auferstanden. Reuchlins Großneffe Philipp Melanchthon, der von seinem Mentor Reuchlin sehr gefördert worden war und von ihm auch seinen Humanistennamen „Melanchthon“ erhalten hatte, teilte zwar das Interesse am Hebräischen mit ihm, stand dem Judentum aber sehr reserviert gegenüber. Luthers „buchlin wieder die Iuden“ übersandte er Landgraf Philipp 1543 mit dem Kommentar, dass es „warlich viel nutzlicher lahr hatt“.