Auf dem Speyrer Reichstag im April 1529, auf dem die evangelischen Stände erneut reichspolitisch bedrängt wurden und dagegen politischen Protest erhoben („Speyrer Protestation“), gelangte Landgraf Philipp zu der Überzeugung, dass sie sich verbünden müssten, wenn sie im Reich bestehen wollten, und dass für das Zustandekommen eines solchen Bündnisses zunächst die innerevangelischen Streitpunkte ausgeräumt werden müssten. Durch eigene Bibellektüre und eine ernste persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben besaß der damals erst 24jährige Landgraf ein durchaus eigenständiges Urteil in Glaubensfragen, zeigte aber an den dogmatischen Differenzen unter den Theologen wenig Interesse. Er stand sowohl mit den Wittenbergern – Luther und Melanchthon – in Austausch, als auch mit Martin Bucer in Straßburg, der eine vermittelnde Position gegenüber den Reformierten um Huldrych Zwingli in Zürich einnahm. Deshalb unternahm er nun einen Anlauf, die führenden theologischen Köpfe zusammenzuführen und zu einer Verständigung zu bewegen. Als Ort dafür wählte er seine Zweitresidenz Marburg, wo sich seit 1527 die Universität und damit auch ein theologisches Zentrum des Landes befand.
Religionsgespräche hat es sowohl zwischen Protestanten und Altgläubigen, als auch unter den Protestanten zahlreiche gegeben. Angesichts einer Kontroverskultur, die sich vor allem im Druck konstituierte, kam der unmittelbaren Disputation, wie sie allen Beteiligten von der Universität her vertraut war, besondere Bedeutung zu: Luther und Zwingli begegneten sich in Marburg zum ersten und einzigen Mal. Alleine dass es Landgraf Philipp gelungen war, die wichtigsten Theologen um einen Tisch zu versammeln (wobei Philipp geschickt zu einer „freundlich, undisputierlichen Unterredung“ geladen hatte), war von einer kaum zu unterschätzenden Bedeutung. Der Landgraf selbst unterstrich mit seiner Initiative nicht nur die räumliche und theologische Mittelstellung Hessens zwischen den Lagern, sondern auch seine politische Führungsrolle innerhalb des Protestantismus.
Tatsächlich gelang es Philipp, die Parteien zwischen dem 27. September und 4. Oktober in Marburg zu versammeln. Die Zusammenkunft fand auf dem landgräflichen Schloss statt; sie stand allerdings unter dem unguten Vorzeichen des Ausbruchs einer Seuche („Englischer Schweiß“) in der Stadt, wodurch die Aufenthaltsdauer limitiert wurde. Die hier zusammengekommenen Vertreter aus den beiden Lagern stammten, wenn man so will, aus fünf Reformationslandschaften: Für die Lutheraner erschienen Luther selbst, Justus Jonas, Caspar Cruciger und Georg Rörer aus Wittenberg, Friedrich Myconius aus Gotha, Justus Menius und Eberhard von der Tann aus Eisenach, sie alle also aus dem ernestinischen Sachsen; dazu Vertreter aus den süddeutschen Reichsstädten: Andreas Osiander aus Nürnberg, Stephan Agricola aus Augsburg und Johannes Brenz aus Schwäbisch Hall. Für die Reformierten kamen Huldrych Zwingli aus Zürich und Johannes Oekolampad aus Basel, schließlich aus Straßburg Martin Bucer und Kaspar Hedio, jeweils begleitet von einem Ratsherrn aus den drei Städten. Hinzu kam eine große Zahl hessischer Theologen, die aber keine aktive Rolle spielten.
Aus verschiedenen Quellen ist man über den Verlauf des Gesprächs relativ gut informiert: Der Landgraf ließ zunächst Einzelgespräche führen, zwischen Oekolampad und Luther und zwischen Melanchthon und Zwingli, und vermied damit eine unmittelbare Konfrontation von Luther und Zwingli gleich zu Beginn. Am 2. und 3. Oktober folgte dann das Hauptgespräch, das vor einer ausgewählten Zuhörerschaft im Wesentlichen von Zwingli, Oekolampad und Luther bestritten wurde und die seit 1525 öffentlich ausgetragene Streitfrage um das Abendmahlverständnis zum Gegenstand hatte. Hier zeigte sich schnell, dass die Kontroverse nicht zu lösen war, denn die Beteiligten waren nicht gekommen, um sich auf die Argumente des anderen einzulassen und nach einer gemeinsamen Basis zu suchen, sondern um den anderen zu widerlegen und von ihrem eigenen Standpunkt zu überzeugen. Luther und Zwingli wiederholten ihr Verständnis der Einsetzungsworte Jesu (Matthäus 26,26). Dabei ging es im Kern um Existenz und Bedeutung des Wortes „est“ („Das IST mein Leib...“), mit dem sich die Frage nach der Realpräsenz Christi im Abendmahl verbindet, und, davon ausgehend, um ein gänzlich unterschiedliches Gemeinde- und Gottesverständnis. Auf die gegenseitige Anerkennung als Brüder und die volle kirchliche Gemeinschaft mochte man sich nicht verständigen. Nachdem die Diskussion zu zerfahren drohte, drängte der Landgraf auf ein gemeinsames Abschlusskommuniqué. Als Grundlage dienten die „Schwabacher Artikel“, die Luther und Melanchthon kurze Zeit zuvor formuliert hatten, und förmlich aus der Tasche zogen. Mit geringfügigen Änderungen gingen sie nun in die „Marburger Artikel“ ein. Aus diesem Grund geben die Artikel den eigentlichen Gesprächsverlauf nur sehr bedingt wieder und halten Positionen fest, die in den Verhandlungen eine eher beiläufige Rolle gespielt hatten.
Die 15 Artikel, die nach Art eines Glaubensbekenntnisses abgefasst sind, behandeln Schöpfung, Trinität, Erbsünde, Glaube, Taufe, Beichte und das Verhältnis zur Obrigkeit. Manchen Artikeln sind diese Themen als Überschriften vorangestellt (wo sie fehlen, wurden sie in der Textwiedergabe nach dem Vorbild der Edition von Wolf-Friedrich Schäufele ergänzt). Beide Parteien wurzelten im Gottesverständnis der spätantiken Kirche, das in der Auseinandersetzung mit den Arianern auf dem Konzil von Nicäa festgeschrieben worden war, und waren sich sowohl in ihrer Ablehnung altkirchlicher Lehrmeinungen und Praktiken einig als auch in der Abgrenzung gegenüber den Täufern, die mit dem Bekenntnis zur Kindertaufe zum Ausdruck gebracht wurde. In vielen Detailfragen ergab sich eine Gemeinsamkeit allerdings nur deshalb, weil die Sätze unterschiedlich interpretiert werden konnten. Das gilt bspw. für die zwischen Luther und Zwingli strittige Frage nach der Vermittlung des Glaubens durch das Evangelium oder den Hl. Geist, die hinter dem, durch den Bezug auf den Römerbrief besonders hervorgehobenen Artikel acht steht. Zwingli hat seine Interpretationen der Artikel in Annotationen festgehalten, die er in sein Handexemplar eintrug.
Im 15. Artikel über das Abendmahl war man sich darin einig, dass es unter beiderlei Gestalt empfangen werden und die römisch-katholische Messe verworfen werden sollte. In einem Nebensatz kommt dann der grundlegende theologische Dissens zum Ausdruck, nämlich mit der Frage, „ob der wahre Leib und das wahre Blut Christi leiblich in Brot und Wein anwesend sind“. Er wird mit dem anschließenden Bekenntnis gemildert, einander, soweit es geht, in christliche Liebe begegnen zu wollen. Tatsächlich beendete das Marburger Gespräch zumindest die öffentliche Polemik zwischen den beiden Lagern.
Fixiert man sich nur auf die Abendmahlfrage, so ist das Marburger Religionsgespräch zum „Ausgangspunkt für die Entwicklung unterschiedlicher evangelischer Konfessionen“ geworden (Dülfer): Die Marburger Artikel wurden zwar von der Hessischen Kirche weitergetragen, in der 1531 das Bekenntnis zu Zwingli gleichberechtigt neben dem zu Luther freigegeben wurde. Aber schon das Augsburger Bekenntnis von 1530 wurde von Zwingli und den Straßburgern sowie den ihnen nahe stehenden Reichsstädten Straßburg, Memmingen, Lindau und Konstanz nicht mehr mitgetragen und machte damit die Spaltung offenkundig. In der Wittenberger Konkordie von 1536 fand zwar ein Ausgleich mit den Letztgenannten statt, doch unter dem Einfluss der Lehre Calvins entfernten sich Schweizerische Reformierte und Lutheraner weiter voneinander. Auch Philipps gesamtprotestantische Bündnispolitik scheiterte nach 1531; der Schmalkaldische Bund wurde ohne Schweizerische Beteiligung geschlossen.
Betrachtet man dagegen die Marburger Artikel als Ganzes, so bringen sie – sicherlich unter dem durch die Situation und den Landgrafen ausgeübten Erfolgsdruck – trotz aller Divergenzen und Interpretationsspielräume eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit innerhalb der evangelischen Lehre(n) zum Ausdruck. Im persönlichen Gespräch mit- statt übereinander hatte man festgestellt, dass sich die Zürcher entgegen anderslautender, umlaufender Gerüchte, davon nicht entfernt hatten. Die Marburger Artikel zeigen somit beides, die gemeinsame Grundlage der evangelischen Bekenntnisse und die Bandbreite ihrer Interpretierbarkeit.
Von den drei am 4. Oktober hergestellten Ausfertigungen der Marburger Artikel sind zwei, das landgräfliche und das Zürcher Exemplar (mit einem Ergänzungsblatt, das dem Marburger fehlt), erhalten: Auf Blatt 63v haben die theologischen Hauptakteure eigenhändig unterzeichnet, nicht zufällig nach Gruppen geordnet: zunächst die Wittenberger, dann die Lutheraner aus den süddeutschen Reichsstädten und dann Oekolampad und Zwingli, denen sich, ebenfalls kaum zufällig, Bucer und Hedio anschlossen. Im Zürcher Exemplar steht umgekehrt die letzte Gruppe als erste. Nur einen Tag später wurde das Dokument von dem Marburger Drucker Franz Rhode abgedruckt; Zwingli ließ unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Zürich ebenfalls einen Abdruck des Textes veranstalten, 1530 folgte ein weiterer von Andreas Osiander in Augsburg. Der Marburger Druck wurde insgesamt nicht weniger als 21 Mal, auch in niederdeutscher und niederländischer Sprache nachgedruckt. Das große Interesse an den Marburger Gesprächen, das sich daran manifestiert, kam nicht von ungefähr: Die Marburger Artikel sind das einzige gesamtprotestantische Bekenntnis der Reformationszeit.