Der vorliegende Brief Melanchthons befindet sich in einem zeitgenössisch gebundenen Aktenband mit Schriftstücken, die der kursächsische Rat und Statthalter zu Weimar Eberhard von der Tann (1495–1574) bei sich aufbewahrt hatte und mit einem Begleitbrief vom 17. Mai 1571 an Landgraf Wilhelm IV. übersandte, um darzulegen, dass die zweite Verbindung von dessen Vater Philipp „kein Ehehandel“ gewesen sei und dem Landgraf und seinen Brüdern daraus kein Nachteil erwachsen werde. Da lagen die Ereignisse bereits 30 Jahre zurück, die Beteiligten waren tot – Landgraf Philipp starb 1567, seine Frau Christine von Sachsen schon 1549, während sich Philipp in kaiserlicher Gefangenschaft befand, und Margarethe von der Saale 1566 –, und dennoch besaßen sie noch immer beträchtliche Auswirkungen.
Am 4. März 1540 hatte im Schloss von Rotenburg an der Fulda eine Art Ehezeremonie stattgefunden: Vor dem Hofprediger Dionysius Melander standen der 35jährige Landgraf und das 17jährige Hoffräulein Margarethe von der Saale, Zeugen waren Philipp Melanchthon, Martin Bucer, der spätere Briefschreiber Eberhard von der Tann, damals Statthalter auf der Wartburg, als Gesandter des sächsischen Kurfürsten, sowie der hessische Kanzler Johann Feige und andere Räte des Landgrafen. Bereits die Wahl der Nebenresidenz Rotenburg machte deutlich, dass es sich um einen eigenartigen Vorgang handelte, und über den Charakter der Handlung waren und blieben sich alle Beteiligten unklar: Bucer und Melanchthon hatten wohl nicht gewusst, weshalb sie nach Rotenburg reisen sollten, und vom sächsischen Hof wurde von der Tann vergeblich instruiert, auf eine Verschiebung hinzuwirken. Eigenartig an dem Rotenburger Vorgang war, dass Philipp bereits seit 1524 verheiratet war, mit Christine von Sachsen, der Tochter Herzog Georgs (Albertiner).
Philipps Heirat war eine politische Heirat: Seit 1373 bestand zwischen Hessen und Sachsen eine Erbverbrüderung. Während der dynastischen Krise zu Jahrhundertbeginn hatte sich Landgräfin Anna eng an das albertinische Sachsen angelehnt und diese Verbindung war anschließend mit neuen Ehestiftungen abgesichert worden. Philipps Übertritt zur Lehre Luthers bedeutete eine Verschiebung der Gewichte zugunsten einer engen Bindung an Kursachsen, die zugleich einen Ausgleich mit der innerhessischen Opposition ermöglichte. Die ursprünglichen politischen Gründe für die Ehe waren damit weggefallen. Auch mit Liebe war die Eheverbindung nicht gesegnet. Der Landgraf suchte seine Freuden anderswo, er lebte von Jugend an promiskuitiv. Ein Dilemma aus Liebe und dynastischer Räson entstand 1539, als Philipps Schwester, verwitwete Herzogin von Sachsen (Gemahlin von Christines Bruder Johann) an den Kassler Hof kam. In ihrem Gefolge befanden sich die Hofmeisterin Anna von der Saale und deren Tochter Margarethe, um die Philipp alsbald zu werben begann. Glaubt man seinen Briefen, war es eine tief empfundene Liebe, die ihn der jungen Dame aus meißnischem Adel vor allen anderen möglichen Kandidatinnen (die er durchaus im Kopf hatte) den Vorzug geben ließ. Das fürstliche Konkubinat, eine dauerhafte uneheliche Beziehung zu einer Frau, war vom römischen Recht gedeckt, gesellschaftlich weithin akzeptiert und unter Philipps Fürstengenossen gang und gäbe: Der unverheiratete Kurfürst Friedrich III. von Sachsen hatte ebenso eine Konkubine wie der verheiratete Pfalzgraf Friedrich der Siegreiche oder Kardinal Albrecht von Brandenburg, dessen Großvater Albrecht Achilles von Brandenburg in einem Brief an seinen Bruder das Konkubinat gar als „alte burggräfliche Gewohnheit“ ausgegeben hatte. Auf eine konkubinatorische Beziehung wollte sich Anna von der Saale aber nicht einlassen. Sie trat für die Ehre ihrer Tochter ein und forderte ein förmliches Ehebündnis.
In dieser Situation suchte Landgraf Philipp nach einem legitimen Ausweg aus seinem Dilemma. Zunächst gegenüber Martin Bucer aus Straßburg, dann gegenüber Luther und Melanchthon in Wittenberg legte er seine Argumente dar: Seine Ehefrau stoße ihn ab – zweifellos ein Zweckargument –, die Hurerei belaste sein Gewissen: Er könne nicht mehr zum Tisch des Herrn gehen, und bei Paulus habe er gelesen, dass kein Hurer oder Ehebrecher in das Reich Gottes käme (vgl. Hebräerbrief 13,4), weshalb er die ewige Verdammnis zu gewärtigen habe. Tatsächlich hatte ihn schon während des Bauernkriegs die Sorge umgetrieben, im Todesfall wegen „Hurerei und Unkeuschheit“ der ewigen Verdammnis anheimzufallen. Verschärft wurde diese Sorge dadurch, dass 1539 bei ihm eine Krankheit ausgebrochen war, die er als Syphilis deutete. Enthaltsamkeit schloss er jedoch kategorisch aus („Ich muss Hurerei oder Böseres bei dem Weibe treiben“). Dass dafür eine körperliche Anomalie ausschlaggebend gewesen sein soll, wie später entschuldigend behauptet wurde, ist aus heutiger medizinhistorischer Sicht mehr als zweifelhaft. Den Ausweg aus diesen Verstrickungen sah Philipp in einer Doppelehe (Bigamie). Als Bibelleser wusste er, dass die Patriarchen mehr als eine Frau gehabt hatten und weder Gott, noch Christus noch die Apostel hätten das verboten.
Der evangelische Fürst argumentierte theologisch, mit der Gewissensnot und dem Vorbild des Alten Testaments, die Theologen dachten auch politisch: Philipp war einer der Vorkämpfer der Reformation im Reich, der ihre Anliegen unter hohem persönlichen Einsatz stützte, mit ihm wollte man auf keinen Fall brechen. Luther verhielt sich zunächst ablehnend und schwenkte dann um. Um seine Haltung zu verstehen, muss man wissen, dass ihm eine gültig geschlossene Ehe als unauflöslich als galt. Luther war bereits in der Genesis-Vorlesung von 1527 auf die alttestamentliche Polygamie eingegangen, und im Fall der ersten Ehe König Heinrichs VIII. von England votierten Bucer, Capito, Grynäus, Luther und Melanchthon, und übrigens zeitweise auch Kardinal Cajetan und Papst Clemens VII., für den Ausweg der Bigamie anstelle einer Ehescheidung. Bucer scheint auf den Gedanken gekommen zu sein, ein Urteil in Form eines Beichtrates abzugeben: Was unter dem Siegel der Beichte gesprochen war, war geheim, betraf einen Einzelfall und hatte von der individuellen Gewissensnot auszugehen. Der Rat der beiden Wittenberger lief auf einen Dispens hinaus, der die Möglichkeit bot, ein Übel zu tolerieren, um damit ein schlimmeres zu verhindern. Dabei dachten sie allerdings nicht an eine förmliche Ehe, sondern lediglich an eine Tolerierung des Konkubinats. Mit diesen Erwägungen gingen die beiden Theologen sicherlich allzu leichtfertig auf die von Philipp konstruierte Notwendigkeit (necessitas) ein; letztendlich machten sie damit die Theologie der Politik dienstbar.
Luther und Melanchthon datierten ihren Beichtrat am 10. Dezember 1539. Im Anschluss daran, verfasste Melanchthon die vorliegende Stellungnahme für Eberhard von der Tann, den Gesandten Herzog Johann Friedrichs (Ernestiner), der seit Mitte Dezember von dem Beichtrat wusste und mittlerweile erhebliche Zweifel an dessen theologischer Stichhaltigkeit hatte. Melanchthons Schreiben ist undatiert. Die ältere Forschung rückte es in den Dezember, neuerdings wird es zum 4. März 1540, also zum Tag der Rotenburger Hochzeit, datiert. Es wäre dann in den hektischen Tagen entstanden, als von der Tann an den landgräflichen Hof in Friedewald reiste, wo er am 1. März ankam, dann nach Schmalkalden zog, um sich mit Melanchthon zu besprechen, dort erfuhr, dass dieser bereits nach Rotenburg aufgebrochen war, wo von der Tann schließlich ebenfalls am 4. März um 8.00 Uhr morgens eintraf und dann die theologischen Gutachten vorgelegt bekam.
Melanchthons Schreiben an von der Tann stand außerhalb des eng umgrenzten Rahmens der Fürstenbeichte und benennt deshalb Probleme, aber keine Namen. Gleichwohl unterstrich Melanchthon in der ersten Zeile auf den Geheimnischarakter hin. Und er tat sich augenscheinlich nicht leicht mit der Formulierung: Schon bei einem flüchtigen Blick auf das Schreiben fallen die zahlreichen Streichungen und Verbesserungen auf: Bereits im ersten Abschnitt setzte Melanchthon an: „in der ehe sind“, strich dann „sind“ und formulierte vorsichtiger: „in der ehe seyn solten“. Erst nach und nach gewann er an Sicherheit, die Korrekturen nehmen gegen Ende des Schreibens ab.
In seiner Stellungnahme nahm Melanchthon die biblische Überlieferung und das weltliche Recht als Leitplanken, von denen aus er das argumentative Feld beackerte: Einerseits die Aussage von Genesis 2,24, dass der Mann sich eine Frau suchen soll (beide Worte sind dort im Singular gebraucht) und beide eins sein sollen, was von Christus in Matthäus, 19, 5-6 wiederholt wurde, wohingegen andere Verse und Erzählungen des Alten Testaments von der Praxis und Duldung der Vielehe sprechen. Anderseits das Gegenüber von der Monogamie im Westen, die Melanchthon auf das deutsche Gewohnheitsrecht zurückführt, und der im Orient auch bei Christen damals noch üblichen Polygamie. Melanchthon löst das Problem, indem er eine Entwicklung annimmt: Die strengen Gesetze des Anfangs (Einehe) seien infolge des Sündenfalls gelockert geworden. Jesus, der sich in einem Umfeld bewegte, in dem die Mehrehe üblich war, habe sich nicht grundsätzlich dagegen ausgesprochen, weil es ihm vor allem darum gegangen sei, seine Zuhörer für seine Lehre zu gewinnen. Der Rückgriff auf Genesis 2,24 sei (was zutrifft) in einer Situation erfolgt, in der er gegen die Ehescheidung gesprochen habe, nicht gegen die Bigamie. Brauch und Recht der Einehe im Westen seien alt und löblich und nicht in Frage zustellen. In Ausnahmefällen könne man aber im Rückgriff auf das Alte Testament davon abrücken, freilich nicht in Form von Gesetzen, sondern eben eines heimlichen Dispenses. Maßstab ist das Gewissen, das er an einer Stelle pointiert dem leiblichen Gesetz gegenüberstellt.
Mit dieser Argumentation, die die wesentlichen Aussagen des Beichtrats kurz zusammenfasst, versuchte Melanchthon noch einmal, die widersprüchlichen Aussagen der Bibel zu harmonisieren, die Allgemeingültigkeit der Gesetze zu bestätigen und gleichzeitig die Möglichkeit eines Dispenses zu eröffnen. Im Gegensatz zu dem Wittenberger Beichtrat war das Schreiben aber wohl in die konkrete Situation der bevorstehenden Rotenburger Zeremonie hineingeschrieben.
Über deren Charakter ging man bis zum Schluss dissimulierend hinweg, bei dem Gedanken an ein „eheliches Konkubinat“ legte jeder die Akzente anders: Während für Philipp und Margarethe eine Ehe stattfand, die Mutter Anna von der Saale darauf gedrängt hatte, durch prominente Teilnehmer Öffentlichkeit herzustellen und auch Christine von Sachsen noch im Dezember 1539 urkundlich eingewilligt hatte, dass sich Philipp eine weitere „Ehefrau“ nehmen möge, behaupteten Luther und Melanchthon später, von Philipp über seine wahren Ziele getäuscht worden zu sein. Denn selbstverständlich blieben die Vorgänge nicht geheim. Befeuert von Christines Onkel, Herzog Heinrich von Sachsen, und dem altgläubigen Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel entzündete sich eine polemische Kontroverse, die die Anliegen der Reformation schwer beschädigte, Hessen belastete und Philipp auch reichsrechtlich in die Enge trieb. Die Wogen glätteten sich erst langsam. Besonders Landgraf Wilhelm IV., der erste erbberechtigte Sohn, blieb über die Vorgänge und über Luther tief empört. Daraus erklärt sich die Aktensendung Eberhard von der Tanns im Jahr 1571, zu einem Zeitpunkt, als die Originalakten für die kursächsische Kanzlei an Bedeutung verloren. Eberhard war sich jedenfalls sicher, 1540 keiner Ehestiftung beigewohnt zu haben.