Weimarer Zeitung, Nr. 15, 19.01.1859, S. 58f.: „Die Aufführung selbst […] blieb, wenn wir die mancherlei Schwierigkeiten einer scenischen Reproduktion gerade dieses Dramas und die doch immer beschränkten Mittel unserer Bühne in Anschlag bringen, hinter ihrer hohen Aufgabe nicht fühlbar zurück; sie war in den meisten Partien eine wohlgelungene, in ihrem Gesammteindrucke eine würdige und wirksame. […] Der rasche Wechsel der Scenen sowie das häufige Auftreten größerer Massen im ‚Tell‘ ist ebenso sehr ein wesentliches Moment eindrucksvoller und ergreifender Wirkung, wie andererseits jedenfalls eine Hauptschwierigkeit in der Darstellung dieses Dramas. Die neueste Aufführung zeigte uns diese Schwierigkeit zum größten Theile glücklich überwunden. […] Nicht ganz so glücklich schien uns das Arrangement der Scene des Apfelschusses. […] In der Scene, wo der aus dem Schiff entronnene Tell dem Fischer seine Rettung erzählt, ward diese Erzählung durch den immerfort rollenden Donner theilweise bedeckt […]. […] Daß wir es mit allen diesen Einzelheiten so genau nehmen, geschieht deshalb, weil […] die Darstellung im Ganzen so gelungen erschien, daß wir wünschen müssen, eine Wiederholung derselben durch Abstellung dieser kleinen, gewiß leicht zu beseitigenden Mängel möglichst befriedigend gestaltet zu sehen. Insbesondere gilt dies auch von den Störungen, welche in mehreren Scenen, sogleich in der Anfangsscene, dann in der Scene nach dem Tod Attinghausens, und so noch ein- oder zweimal, der eine oder andere Darsteller durch versagendes Gedächtnis verschuldeten. […] Dies führt uns noch auf eine andere Bemerkung, die wir wenigstens als Wunsch für eine nächste Aufführung des Tell nicht unterdrücken mögen. Wie kommt es, daß man bei einem Stück, welches zu nur annähernd ausreichender und angemessener Besetzung alle Kräfte, selber eines größeren, geschweige denn unsres Theaters in Anspruch nimmt, eine so tüchtige und erprobte Kraft, wie unsern würdigen Genast, unbeschäftigt läßt? Daß Herr Genast den ‚Tell‘ abgegeben, kann doch wohl kein Grund sein, ihm nicht nur eine Rolle zuzuweisen, welche ihm, seinen vorgerückteren Jahren nach, nunmehr die anpassendste in diesem Drama, ja welche, nach seiner ganzen Individualität, recht eigentlich für ihn geschaffen ist – die Rolle des ‚Attinghausen‘? […] Wie viel es zu einem befriedigenden Gesammteindrucke eines Stückes beiträgt, wenn auch kleine und unscheinbar nur nebensächliche Rollen mit der richtigen Haltung und in einem dem Ganzen anpassenden Tone gespielt werden, hat uns u. A. Frau Stör als ‚Stauffachers Gattin‘ gezeigt. […] sie gab weder zu wenig, noch, was hier fast noch leichter geschieht, zu viel. Aehnliches können wir von Herrn Pasqué als ‚Pfarrer Rösselmann‘, von Herrn Roth als ‚Fischer Ruodi‘, auch von Herrn Streit als ‚Baumgarten‘ und überhaupt so ziemlich von den meisten Darstellern der Schweizer Landleute sagen […]. […] Der alte ‚Attinghausen‘ […] ward von Herrn Francke mit bester Intention in der ersten Scene freilich nicht ganz mit ausreichender Kraft und Würde gegeben. Besser gelang ihm die Sterbescene, obgleich auch hier doch mehr das Menschlichweiche und Wohlwollende, als das Edel- und Staatsmännische (z. B. in der Prophezeihung) zur Geltung kam. – Recht sehr anerkennen müssen wir die Leistungen der Herren Milde und Schmidt als ‚Stauffacher‘ und ‚Walter Fürst‘. Es wird selten vorkommen, daß eine Bühne zwei Sänger besitzt, welche zugleich im recitirenden Drama so bedeutende Rolle […] nicht nur zu übernehmen, sondern auch so zufriedenstellend durchzuführen bereit und im Stande sind. […] Hr. Grans führte die Rolle des ‚Melchthal‘ mit einer Mäßigung und gehaltenen Ruhe durch, die wir ihm um so höher anrechnen, je näher gerade hier die Versuchung zu allerlei wilden Geberden und Exclamationen liegt […]. Der Schmerzensruf bei der Nachricht von der Blendung seinss [sic] alten Vaters war lebhaft, aber durchaus natürlich und fühlbar aus dem Innersten kommend, daher auch ergreifend. […] In den späteren Scenen schien uns Hr. Grans hier und da seiner Rolle nicht ganz sicher. Der Charakter des ‚Geßler‘ […] ward von Herrn Kaibel in der ganzen barschen Wildheit und ächten Tyrannennatur gegeben. – Herr Wilms (‚Harras‘) muß vor Allem erst deutlicher und fließender sprechen lernen. – Herr Wünzer genügte seiner […] Aufgabe als ‚Johannes Parricide‘ ziemlich gut. – Die ‚Hedwig‘ der Frl. Daun verdient um so mehr Anerkennung, als das Naturell der Künstlerin sie gerade in dieser Rolle weniger unterstützt und daher Kunst und Studium das Beste thun müssen. – Frau Hettstedt brachte ihre scheinbar so unbedeutende Rolle durch ein lebhaftes, mit richtigem Verständniß das individuelle Motiv der allgemeinen Situation einordnendes Spiel zu wirksamster Geltung. Auch des Knaben Tell (Frl. Clara Hesse) können wir lobend gedenken.“
Fortsetzung: Weimarer Zeitung, Nr. 16, 20.01.1859, S. 63: „Herr Locher […] spielte die Rolle des ‚Tell‘ […] zum ersten Male. Er spielte sie auf denselben Brettern, auf denen man lange Jahre hindurch gewohnt war, einen der bedeutendsten Darsteller dieser Rolle in ganz Deutschland, Herrn Genast, zu sehen und zu bewundern. Alle diese Umstände muß man wohl berücksichtigen, wenn man der Leistung des Herrn Locher vollkommen gerecht werden will. Der Erfolg, den er an jenem Abend hatte, erscheint alsdann um so verdienter. Herr Locher wurde von dem, im Ganzen und namentlich in den unteren Räumen des Hauses sehr zahlreich versammelten Publikum mit einer, sich im Fortgange seines Spiels sichtlich mehr und mehr erwärmenden Theilnahme begleitet, mehrfach durch lebhaften Beifall belohnt und am Schlusses des dritten und fünften Aktes gerufen. […] Die Totalauffassung des Charakters hatte jedenfalls das große Verdienst, selbstständig durchdacht, nicht äußerlich nachgeahmt, deshalb in einem einheitlichen und gleichmäßigen Tone gehalten zu sein. […] Auf den Monolog näher einzugehen, enthalten wir uns […]. […] Im Ganzen schien uns der Monolog mit sicherer Haltung und sorgsam bemessener Aufeinanderfolge seiner verschiedenen Momente gesprochen zu werden. Alles in Allem halten wir die erste Darstellung des ‚Tell‘ seitens des Herrn Locher zwar keineswegs für eine vollendete und in allen Theilen gleichmäßig befriedigende, wohl aber für ein ganz erfreuliches und vielversprechendes Debüt in dieser so schwierigen Rolle, und hegen die Ueberzeugung, daß Herr Locher, bei seinen schönen, gerade für den Tell so ergiebigen Mitteln, bei seinem ernsten Studium und bei der ihm hier, wie kaum irgendwo anders, gebotenen Gelegenheit, durch die besten Traditionen sich fort- und auszubilden, mit der Zeit Bedeutendes in dieser Rolle leisten wird.“